Donnerstag |
1.4.04 |
19.30
Uhr |
|
|
Javier
Salinas liest aus seinem Roman "Die Kinder der Massai" -
eine erfrischend andere
Scheidungsgeschichte.
"Wann
gilt man als hochbegabt? Ganz einfach, wenn man den entsprechenden
Test bestanden hat. Juan ist in der Schule nur mittelmäßig, aber
seine hochbegabte ältere Schwester Laura, neben der er sich
manchmal ein bisschen doof vorkommt, hat ihm verraten, wie man den
Test ausfüllen muss. Seitdem könne er in aller Ruhe schlechte
Noten schreiben, sagt Juan, »denn wenn ich schlechte Noten
schreibe, denken alle, daß ich einfach zu intelligent bin.
Was die Nachteile angeht: Ich schreibe eben schlechte Noten.«
Juan,
der kindliche Ich-Erzähler, denkt viel nach. Zum Beispiel darüber,
wie es wäre, wenn man den Körper auseinandernehmen könnte. Wenn
man etwas nicht sehen oder hören möchte, nimmt man sich einfach
die Augen oder Ohren ab. Vor kurzem hätte er das gerne einmal
gekonnt, in der »Nacht der zerbrochenen Vasen« nämlich, als
unmissverständlich klar wurde, dass sich die Wege der Eltern
trennen.
Juan
ist von der Welt der Erwachsenen irritiert. Um sie zu verstehen,
sucht er auch bei der Schwester Rat, die auch ein guter Kumpel sein
kann. Machmal sind ihre Erklärungen ein bisschen verworren
philosophisch. Sie redet etwas von Bezugspersonen und
Selbstvertrauen und sagt, »der Welt sei es egal, ob man an sie
glaube oder nicht, sie sei in jedem Fall rund«. Juan versteht, dass
er in mancher Hinsicht eben auf sich allein gestellt bleibt. Mama
ist Redakteurin und schreibt, wie es Juan scheint, »sämtliche
Fernseh- nachrichten für alle Fernsehsender dieser Welt«, Papa ist
als Straßenbauingenieur ständig in Afrika unterwegs.
Prekär
wird die familiäre Situation für Juan, als die »sehr zarte und
feinfühlige« Sportlehrerin Frau Matutes, »die nur aus Versehen
vierundfünfzigmal pro Satz flucht«, ihn beim Spielen in die andere
Gruppe steckt: In der einen Mannschaft spielen alle Kinder aus
»intakten Familien«, in der zweiten alle, deren Eltern getrennt
sind. In eben diese muss Juan nun wechseln, was bedeutet, alle
zukünftigen Spiele zu verlieren, weil die zweite Mannschaft eben
die Verlierergruppe ist. Dass dieses fiese kleine Modell einer
Gewinner- und Verlierergesellschaft nicht alternativlos ist, wird
für Juan schließlich zumindest vorstellbar.
Javier
Salinas Roman ist alles andere als eine Zeigefinger-Geschichte vom
harten Los des Scheidungskindes in einer Welt der zerfallenden
Werte. Der in Köln und Madrid lebende 31-jährige Salinas verleiht
seinem jungen Helden eine so frische Sprache, dass es ihm und auch
der Übersetzerin fast traumwandlerisch gelingt, die schwierige
Balance zwischen kindlicher Naivität, literarischem Niveau und
griffiger Ironie zu meistern.
Und
der Titel? Über »die Kinder der Massai« hat Juan von seinem Vater
erfahren, dass sie alle ihren biologischen Vater nicht kennen - und
somit auch keinen verlieren können. Die Massai sind automatisch
Kinder von allen, Kinder des ganzen Massaidorfes. Eine interessante
Alternative zur hiesigen Familienkonstruktion, zumal wenn diese
zerbricht.
Benedikt Geulen |